Lundumatu: Hindernisse und Umbrüche (Gastautor: Dr. Th. Broch)
Heute begleitet uns der Nebel auf unserer Fahrt nach Südwesten weit ins Bergland hinein. Lundumatu ist das Reiseziel, eine Schwesternstation der Vinzentinerinnen mit einer Dispensary und einem Kindergarten. Sr. Maria Agnes und Sr. Martina aus Mbinga begleiten uns wieder.
Kurz hinter Mbinga endet auch in dieser Richtung bald wieder die asphaltierte Straße, aber die erdgebundene Fahrbahndecke ist zunächst in einem guten Zustand, ja sie geht geradewegs in eine breite neue Fahrbahn über. An mehreren Stellen künden Werbetafeln davon, dass hier die Europäische Union ein Straßenbauprojekt umsetzt. Das geschieht nicht ohne Grund: Unweit unseres Reiseziels Lundumatu, etwa einen davon Kilometer entfernt, wurde Gold entdeckt; der Minenbetrieb soll in naher Zukunft aufgenommen werden, und die Straße wird benötigt, um den damit verbundenen Schwerlastverkehr aufnehmen zu können.
Dies wird die soziale Struktur der ländlichen Gegend stark verändern; es ist zu befürchten, dass sie sich mehr zum Schaden als zum Guten der Menschen auswirken wird. Unmittelbar betroffen sind die unmittelbaren Anwohner des Straßenbaus schon jetzt. Die schweren Baumaschinen, die links und rechts die Hänge abfräsen und gewaltige Erdmassen und Felsbrocken bewegen, haben die Ausschachtungen für die Straße zum Teil bis unmittelbar vor die Häuser vorgenommen, so dass deren Bewohner kaum mehr hinein gehen oder heraus kommen können, geschweige denn, dass es in den kleinen Siedlungen noch irgendeinen Platz gibt, der nicht unvorstellbar verdreckt ist. Manche Häuser sind mit einem weißen Kreuz gekennzeichnet; das bedeutet: sie sind zum Abriss vorgesehen. Wahrscheinlich werden die Besitzer eine kleine Entschädigung erhalten; dass diese die Kosten eines Bauplatzes und eines neuen Hauses deckt, dürfte fraglich sein. Womöglich wird das Geld auch anderweitig unmittelbar ausgegeben, so dass am Ende gar nichts mehr übrig bleibt, weder Haus noch Geld.
Immer wieder sind über längere Strecken hinweg die Baumaschinen am Werk, die Baustellen müssen mühsam umfahren werden. An anderen Stellen kommt der Landrover in engen und tief verschlammten Kurven kaum mehr weiter – trotz Allradantriebs. Aber Joseph, der Fahrer des Klosters, meistert souverän und mit gleichbleibender Ruhe die Schwierigkeiten.
Auf der Passhöhe der letzten Erhebung, bevor die Straße endgültig wieder bergab Richtung Nyassa-See führt, verändert sich mit einem Mal das Wetter, und die Sonne scheint aus einem strahlend blauen Himmel.
Unmittelbar an der neuen Straße, auf halber Höhe an der Südwestflanke der Berge, liegt die Station Lundumatu der Vinzentinerinnen. Der Wagen biegt in den angeschlossenen Innenhof ein, und wir sind in einer anderen Welt. Die Station wurde von den Benediktinern erbaut, mit einem Kreuzgang, der einen Garten mit Fischteich umschließt und in dessen Innerem sich die Mönchszellen aneinander reihen, in einem Flügel des Refektorium und die Hauskapelle. Das Haus wurde nie von den Benediktinern bewohnt, für die Schwestern ist es viel zu groß und der Unterhalt mit erheblicher Mühe verbunden.
Wie immer, so werden wir auch hier mit einer Begrüßungsmahlzeit empfangen, zubereitet von Sr. Justina, deren Reich die Küche und die Hauswirtschaft sind. Dann ist auch hier Budgetplanung angesagt, während Sr. Maria Agnes mit Sr. Damiana, Harald Geißler und Thomas Broch zum Rundgang durch die verschiedenen Bereiche der Station aufbricht. Da ist zunächst das Dispensary, das Sr. Bakitha leitet, gemeinsam mit vier Mitarbeitenden, darunter ein Arzt. Die häufigste Erkrankung, mit der man hier zu tun habe, sagt Sr. Bakitha, sei Malaria. Die Regierung plant, diese Einrichtung zu einem Health Centre höher zu stufen. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass künftig mit den Arbeitern in der Mine und im Straßenbau sowie mit den LKW-Fahrern ein höherer Versorgungsbedarf als bisher angenommen wird. Allerdings passt damit überhaupt nicht zusammen, dass Sr. Bakitha am 29. Juni einen Bescheid von der Regierung bekommen hat, demzufolge sie an ein Dispensary nach Matiri versetzt ist und dort Mitte August ihren Dienst antreten soll. Ein Konvent, in dem sie leben könnte, existiert dort nicht; und für einen täglichen Arbeitsweg zwischen Lundumatu und Matiri ist es viel zu weit. Außerdem existieren von diesem Dispensary bislang nur die Mauern ohne Türen und Fenster. Sr. Bakitha soll es aufbauen. Für einen Ersatz für sie in Lundumatu solle der Orden sorgen, das gehe die Regierung nichts an, erklärt man ihr. Dass sie sehr unglücklich ist, bedarf keiner weiteren Erklärung. Insgesamt betrifft dieses Vorgehen der Regierung vier Schwestern der Vinzentinerinnen. Es stehen in dieser Sache intensive Auseinandersetzungen zwischen dem Bischof von Mbinga und der Regierung an.
Der nächste Besuch gilt dem Kindergarten, den uns Sr. Oliva zeigt. Etwa 50 Kinder kommen täglich hierher, spielen, lernen, bekommen eine Mahlzeit, die bereits auf dem Herd in der kleinen Küche gart. Die Süßigkeiten, die die Schwestern mitbringen, lösen große Begeisterung aus. Das Feld mit Gemüse, Salat und anderen Nahrungsmitteln für den täglichen Bedarf der Schwestern wird von Sr. Clementina bestellt, die auch für die Frauenarbeit im Dorf verantwortlich ist. Es ist entlang einem Wasserlauf schön angelegt und wirkt sehr gepflegt.
Die Budgetplanungen ziehen sich etwas in die Länge. Die deutschen Gäste genießen daher bis zum gemeinsamen Mittagessen die Sonne auf den Treppenstufen zum Garten hin; und da die Verwaltungsaufgaben danach noch einer Fortsetzung bedürfen, haben sie dazu noch einmal Gelegenheit. Die Zeit intensiver Arbeit für die einen ist für die anderen eine Zeit ungewohnter, aber durchaus willkommener Muße.
Auf der Rückfahrt über die bereits bekannten Baustellen, Hindernisse und fertigen Straßenabschnitte ziehen im Licht des Spätnachmittags die Berghänge und am Horizont der Wasserspiegel des Nyassa-Sees den Blick noch einmal auf sich.
“Heute war unser Haus groß, weil ihr hier gewesen seid.”
In Mbinga beginnt der Tag trübe und mit leichtem Regen. Wir sollen uns für die heutige Fahrt nach Mikalanga warm anziehen, werden wir vorsorglich ermahnt – es sei dort kalt und regnerisch. Das scheint sich zunächst zu bestätigen. Als wir – Sr. Anna-Luisa, Sr. Damiana, Sr. Maria Agnes und Sr. Martina aus dem Kloster sowie Florian Hecke, Harald Geißler und Thomas Broch kurz hinter Mbinga die asphaltierte Straße verlassen, werden wir im zunehmend höheren Bergland noch eine Weile von Nebel und leichtem Regen begleiten. Die Straße wird wieder steiler und zunehmend schlechter, die Berghänge rücken näher heran. Bis hoch hinauf ziehen sich klein parzellierte Felder, die von einer kleinbäuerlichen Struktur zeugen. An manchen Stellen ist das Firmenschild DAE zu sehen, eine Kaffeefirma, die die Kleinbauern unterstützt und u. a. in Mbinga das Café betreibt, in dem wir wiederholt eingekehrt sind. Über die Bepflanzung sind Netze gelegt, in der Mitte sind die Felder anders bepflanzt als an den Rändern; beides soll die steilen Hänge dagegen schützen, dass in der Regenzeit die Erde talabwärts geschwemmt wird. Das Ganze verleiht der Landschaft interessante Strukturen.
Von kleinen Abschnitt angesehen, wird die Straße immer mühsamer befahrbar. Die Berge werden felsig, immer öfter tauchen riesige Findlinge aus den Feldern auf. Dann öffnet sich die Landschaft in ein weites, hügeliges Hochland mit Felsen, die wie von Riesenhand ausgestreut wirken. Die Siedlungen wirken wohlhabender als die Dörfer unten, und das ist nicht verwunderlich: Die Menschen leben hier weithin vom Anbau von Kaffee, der auf weitläufigen Feldern wächst, unterbrochen und gegen die Hitze geschützt von Bäumen, vor allem von Bananenstauden, die überall dazwischen wachsen. Das Hochland ist wie eine Arena von Bergen umsäumt, die teilweise die 3.000-Meter-Region erreichen dürften. In einer Senke zwischen zwei Bergen vor uns sehen wir im Dunst den Nyassa-See liegen, der südlichsten der drei großen Seen im ostafrikanischen Grabenbruch. Wir werden ihn an diesem Tag noch öfter vor Augen haben und am Ende der Reise auch aufsuchen. Inzwischen hat der Himmel aufgemacht, und den ganzen Tag über wird uns strahlender Sonnenschein begleiten.
Nach rund eineinhalb Stunden erreichen wir Mikalanga, das Ziel der heutigen Reise. Dort werden wir im Konvent der Vinzentinerinnen von Sr. Maria Ursula empfangen, die das Haus und die Küche betreut und sich im Dorf um ein Frauenprojekt und um die Armenversorgung kümmert; außerdem von Sr. Rosalina, die hier als Katechetin tätig ist, von Sr. Nuru, die den Kindergarten leitet und als hervorragende Tänzerin bekannt ist, und von den Schwestern Julia und Renata, die in der Dispensary arbeiten. Wie überall ist auch hier der Empfang sehr herzlich, verbunden mit einer Begrüßungsmahlzeit. Dann befassen sich Sr. Anna-Luisa und Florian gemeinsam mit Sr. Martina und den Schwestern des Konvents mit der Budgetplanung für den Konvent und seine Dienste, während Sr. Maria Agnes die drei anderen Gäste aus Deutschland zu ihrem Projekt begleitet, für dessen Gelingen sie so dankbar ist. Mit uns kommt der Gemeindepfarrer; er ist erst seit kurzem hier, und die Schwestern sind sehr froh, dass sie in ihm einen zuverlässigen Seelsorger bekommen haben, der sich auch ihre Anliegen zu eigen macht.
Doch zuvor muss erneut eine Strecke zurückgelegt werden. Mit dem Auto geht es wieder aus dem Dorf hinaus zur gegenüberliegenden Seite der Senke, an deren Rand Mikalanga liegt, und dann wieder bergauf auf immer steiler und enger werdenden Straßen und Wegen, wo die Zweige der bis dicht an den Wegrand wachsenden Kaffeesträucher in den Wagen herein schlagen. Irgendwann ist dann auch der Landrover am Ende seiner Möglichkeiten angekommen, und wir gehen zu Fuß weiter den Berg hoch am Kaffee und an Bäumen vorbei, durch Buschland, in dem ab und zu ein Schwein nach Nahrung sucht oder eine Kuh weidet oder ein paar kleine Anwesen an den Hang geschmiegt sind. Außer zwei Kindern, die mit einem Schubkarren unterwegs sind, und einer Frau, die vor ihrem Häuschen fegt, begegnen wir niemandem.
Auf einem schmalen Fußweg geht’s zum Schluss noch einmal ein kleines Stück steil bergab – und dann stehen wir vor Sr. Maria Agnes‘ Projekt, einer betonierten Brunnenstube. Rund 1.800 m hoch dürfte dieser Platz sein. Ein per Handy herbei gerufener Mann aus der Umgebung öffnet das Schloss am Deckel mit einem Spezialschlüssel, und wir sehen klares Quellwasser, das aus den Bergen talabwärts fließt und durch den Druck der Wassersäule auf der anderen Seite der Senke wieder nach oben steigt und die 8.000-Liter-Zisternen der Schwestern füllt. Sr. Maria Agnes ist überglücklich, dass sie uns dieses Werk zeigen kann. Lange wurden die Schwesternstation, die dazu gehörige Dispensary und der Kindergarten aus einer anderen Quelle versorgt, deren Wasser verunreinigt war, so dass immer wieder Menschen davon krank wurden. Deshalb musste man diese Versorgung abstellen und hatte lange Zeit kein fließendes Wasser mehr im Haus. Jetzt bekommen die Schwestern endlich wieder klares und regelmäßig fließendes Wasser. Noch wird viel Sand mitgeschwemmt, aber dieses Problem wird bald beendet sein. Wie hat Sr. Maria Agnes diese Quelle tief im Bergland entdeckt? Den Menschen hier in der Gegend sei sie bekannt, sagt sie, und sie komme ja oft hierher. Und die Materialien, die für den Bau der Brunnenstube und für das Verlegen der Wasserleitung benötigt wurden? Man habe sie mit dem Landrover bis zu der Stelle gebracht, an der auch wir ausgestiegen sind. Und dann habe man sie hierher tragen müssen. Für uns Gäste aus Deutschland wird sehr deutlich, wie schwierig es hier ist, eine ausreichende Infrastruktur herzustellen, und mit welcher Selbstverständlichkeit wir uns zuhause auf ein funktionierendes System der öffentlichen Versorgung verlassen. Man lernt hier manches mit anderen Augen zu sehen.
Wieder zurück in der Schwesternstation, wo inzwischen auch die verwaltungstechnischen Aufgaben fast erledigt sind, werden wir mit einem Mittagessen empfangen, dann besuchen wir gemeinsam die Dispensary, wo im Innenhof einige Patientinnen und Patienten mit ihren Angehörigen die Zeit verbringen, und besichtigen den winzig kleinen Kreißsaal, wo Sr. Julia jeden Monat zwischen 20 und 30 Kinder entbindet; bei Komplikationen werden die Frauen in die Klinik nach Maguu gebracht. Von der Versetzungsinitiative der Regierung sind die beiden Krankenschwestern hier nicht betroffen. Dann führt der Weg noch in den Kindergarten; die Kinder sind allerdings bereits zur Mittagszeit nach Hause gegangen. Aber wir können den Vorschulraum mit den kleinen Tischen und Stühlen und der Tafel mit Rechenaufgaben besichtigen, die Spielgeräte und Schaukeln auf dem Hof, den großen neu errichteten Speisesaal. Die Eltern im Dorf haben sich bereitgefunden, diesen Saal zu finanzieren, nachdem in einem viel zu kleinen Speiseraum in einem anderen Kindergarten ein schlimmes Unglück passiert war: als die Kessel mit dem heißen Essen herbeigebracht wurden, haben die Kinder herumgetollt und einen der Kessel umgestoßen, ein Kind hat sich dabei so verbrüht, dass es gestorben ist.
Wir kommen an der Pfarrkirche vorbei. Sie ist am Chor von außen mit starken Balkenverstrebungen abgestützt, weil sie hangabwärts zu gleiten drohte. Jetzt wurden auch die Fundamente stabilisiert, und die Kirche und die angebauten Gemeinderäume sind sicher. Bau und Renovierung der Kirche wurden durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart mehrfach finanziell unterstützt, und Bischof Dr. Gebhard Fürst hat hier bei einem Besuch im Jahr 2005 die Kinder der umliegenden Gemeinden gefirmt.
So herzlich wie die Begrüßung wird auch der Abschied in Mikalanga. Noch einmal werden wir bewirtet. Sr. Nuru bedankt sich in einer kleinen Rede für den Besuch und die viele Unterstützung, der Gemeindepfarrer schließt sich dem an und hebt besonders die Förderung des Wasserprojekts hervor. „Jetzt haben wir bald stabiles und sehr klares Wasser“, sagt er, „wir freuen uns darauf.“ Mit Tanz und Gesang überreichen die Schwestern uns Gästen aus Deutschland Geschenke: wunderschöne Kangas und für Florian Hecke ein Hemd mit afrikanischem Design. Diese Hemden stehen ihm gut; er hat schon viele bekommen und trägt sie auch auf dieser Reise gerne.
„Heute war unser Haus groß, wie ihr hier gewesen seid“, sagt Sr. Nuru zum Abschied.